Liebe Online-Gemeinde,
Ich grüße Sie alle sehr herzlich, wo immer Sie
diese Internet-Predigt auch lesen. In Zeiten von
Corona wünschen wir uns Schutzengel. Für uns,
für unsere Familien, für unsere Nachbarn.
Ich möchte deshalb über einen Film erzählen, den
der vielfach ausgezeichnete Regisseur Wim Wen-
ders gemacht hat. Für ihn sind Engel eine Quelle
unerschöpflicher Phantasie. Nun sind die wenigs-
ten von uns in der Filmbranche tätig, aber bei die-
sem Thema können wohl alle mitreden, jeder und
jede mit eigenen Bildern und Vorstellungen im
Kopf.
Flügel müssen sie haben, sollen ja pfeilschnell an
Ort und Stelle sein, wenn sie gebraucht werden.
Und aller Sprachen mächtig sein, schließlich müs-
sen sie überall auf der Erde verstehen, was die
Menschen beschäftigt.
Engel altern nicht, sie schreiten durch die Zeiten.
Nicht selten in Einheitsrobe, lange, wallende Ge-
wänder, natürlich in weiß, der Farbe der Unschuld.
Engel kommen schwebend daher wie Schneeflo-
cken, der Traum ist ihr bevorzugtes Spielfeld.
Engel sind fleischlos und gehen durch dickste
Mauern.
Engel haben kein Eigenleben, spielen weder Skat
noch entspannen in Hängematten, sind eigentlich
immer im Dienst.
Ihr Dasein besteht im Erfüllen von Aufträgen und
Ausüben wichtiger Funktionen, sie sind selbstlose
Wesen, ohne eigene Identität und Interessen.
Engel sind nicht weisungsgebunden, was mensch-
liche Wünsche oder Erwartungen betrifft, sondern
Boten aus einer anderen Welt.
Engel sind in der Regel unsichtbar, auch wenn ihre
Abbilder Friedhöfe, Siegessäulen oder Kirchen-
pforten schmücken.
Wir kennen den Schutzengel und auch den Ra-
cheengel, haben von Erzengeln gehört und von
den gefallenen Engeln, es gab sogar einen Fußball-
spielenden blonden Engel (auch wenn das nur ein
Mensch namens Bernd Schuster war und in Diens-
ten von Real Madrid stand).
Liebe Gemeinde,
das soll für den Einstieg reichen. Das Weitere
überlasse ich Ihnen und Ihrer unerschöpflichen
Phantasie. Ich möchte ja noch ein bisschen Zeit
haben, um vom „Himmel über Berlin“ zu erzählen.
Der Film spielt in der Nachkriegszeit, noch ist die
Stadt geteilt, noch zieht sich die Mauer mit Sta-
cheldrahtzaun und Todesstreifen wie eine hässli-
che Narbe quer durch Berlin und trennt die
Menschen im Westen und Osten. Trümmergrund-
stücke, ödes Brachland mitten in der Stadt, Kriegs-
ruinen, Mietskasernen. Nur der graue Himmel
über der Stadt ist unteilbar. Und der gehört nicht
Ost oder West, sondern den beiden Engel Cassius
und Damiel.
Besondere Engel. Sie verliren ihre Flügel, wandern
in langen Mänteln unsichtbar durch die Straßen
und Häuser der Stadt, beobachten alles, hören zu,
bleiben stumme Zeugen, die in das Geschehen um
sie herum nicht eingreifen. Mehr als eine Hand auf
die Schulter oder den Kopf der Menschen, die
davon gar nichts mitkriegen, haben sie nicht zu
bieten. Auf ihrem Gang durch Berlin nehmen sie
uns mit in eine Welt, in der die Menschen mit
ihren Sorgen, Problemen und Ängsten allein schei-
nen. Man sieht durch Fenster in trostlose Woh-
nungen, blickt in der U-Bahn in leere Gesichter,
streift durch eine Bibliothek, in der gepaukt wird,
notiert Gesprächsfetzen und unverständliches Ge-
murmel auf der Straße.
Schließlich tauschen sich Cassius und Damiel, die
beiden Hauptfiguren, über ihre Eindrücke aus,
schildern Miniaturaufnahmen vom Leben in
Berlin.
„Es ist herrlich, nur geistig zu leben und Tag für
Tag für die Ewigkeit von den Leuten rein was geis-
tig ist zu bezeugen.“ sagt Damiel am Ende. „Aber
manchmal wird mir meine ewige Geistesexistenz
zuviel. Ich möchte dann nicht mehr so ewig drüber
schweben. Ich möchte ein Gewicht an mir spüren,
dass die Grenzenlosigkeit an mir aufhebt und
mich erdfest macht. Ich möchte bei jedem Schritt
oder Windstoß jetzt und jetzt und nicht mehr je
und in alle Ewigkeit sagen.“
Ein Engel will ins Leben, träumt vom Füttern der
Katze am Feierabend, vom Fieber einer Erkran-
kung, von schwarzen Fingern beim Durchblättern
frisch gedruckter Zeitungen, vom Füße ausstre-
cken unter dem Tisch, träumt von den tausend
tagtäglichen Kleinigkeiten, die für uns nicht der
Rede wert sind, träumt den Traum vom Leben in
Fleisch und Blut.
Sich nicht nur von Geist begeistern lassen, son-
dern von einer Mahlzeit. Ach und oh und ah und
weh sagen können statt immer nur ja und amen.
Endlich hinaus in die Welt jagen. Weg mit der Welt
hinter der Welt.
Sein Gegenpart hört zu, nicht ohne Sympathie,
teilt die Begeisterung seines Kollegen jedoch nicht.
„Allein bleiben, geschehen lassen, ernst
bleiben...nichts weiter tun als anschauen sam-
meln, bezeugen, beglaubigen, wahren, im Geist
bleiben, im Abstand bleiben, im Wort
bleiben...Cassius wird sich nicht ins Leben ziehen
lassen, „denn nichts davon wird wahr sein“, pro-
phezeit er skeptisch, und doch ist er Damiel bei
dessen Eintritt in die Welt der Irdischen behilflich..
Es ist sicher kein Zufall, dass der letzte Schritt vor
Damiels himmlischer Absturz ins irdische Leben
im Todesstreifen an der Mauer spielt. Damiel
weiß, welchen Preis er für seinen Entschluss zah-
len wird. Seine Tage werden begrenzt sein, er wird
Schmerzen spüren, verletzlich werden, übers Ohr
gehauen, aber auch die Neugier und das Staunen
entdecken, wird Sehnsucht im Herzen tragen und
auf der Suche nach einer großen Liebe bleiben.
Eins ist nicht ohne das andere zu haben. Wider-
sprüche aushalten müssen und dennoch die Hoff-
nung nicht aufgeben, am Anderen leiden und den
Anderen brauchen wie Luft zum Atmen, Lust emp-
finden und Trauer über Abschiede spüren, feiern
im Wissen sterblich zu sein.
Und plötzlich kommt Farbe in den Film, wechselt
er vom tristen schwarz-weiß in bunte Bilder. Und
es ist so, als ob ein tief hängender Wolkenvorhang
plötzlich aufreißt und die Sonne ihr Licht über die
Erde Leben gießt.
Eine Liebeserklärung ans Leben, ohne dessen be-
drückende, traurige Seiten dabei auszublenden
oder zu verdrängen. Bilder von Krieg und Terror,
von öder Leere, vom Leid der Opfer, der Ratlosig-
keit aus der Zeit Gefallener, der Wut miteinander
Streitender. Und daneben: Schönheit, Leichtigkeit,
Jugend, Fest und Feier, Kinder im Spiel, ein kauzi-
ger Schauspieler, der Anteil nimmt, Damiel hilft
und später entlarvt wird. Auch er ein früherer
Engel, der den Himmel zugunsten der Erde
verließ.
Können Menschen füreinander Engel werden?
Sie können es, sagt der Himmel über Berlin. Kön-
nen es, wenn und weil sie das Wunder der Liebe
entdecken.
Damiel hat auf seinen Streifzügen durch die Stadt
einen kleinen Wanderzirkus entdeckt, der vor der
Pleite steht und sich auflösen muss. Als unsichtba-
rer Gast besucht er die Abschiedsvorstellung und
verliebt sich in die Trapezkünstlerin Marion, die fe-
derleicht unter der Zirkuskuppel schwebt und
schaukelt, hört ihren Gedanken zu, ist hingerissen
von ihrem Lebensmut, ihrer Zuversicht, ihrer Ju-
gend und Schönheit. Doch als er erneut den Zir-
kus besuchen will, findet er nur noch den
verlassenen Sandkreis der früheren Manege.
Er macht sich auf die schwierige Suche, im
Dschungel der Metropole, unter Tausenden von
hin und her Hastenden die eine wieder zu entde-
cken, ist ja kein Engel mehr, der aus himmlischen
Höhen herabschaut, sondern ein gewöhnlicher
Sterblicher, der sein Glück sucht.
Und am Ende findet. Sehnsucht findet Erfüllung.
Ich habe in dieser Nacht das Staunen gelernt, sie
hat mich heimgeholt und ich habe heimgefunden,
wird Damiel später sagen. Es war einmal und also
wird es sein. Das Bild, das wir gezeugt haben, wird
das Bild meines Sterbens sein. Ich werde darin ge-
lebt haben. Erst das Staunen über uns zwei hat
mich zum Menschen gemacht. Ich weiß jetzt, was
kein Engel weiß.
Ihr Lieben,
Ob die Aufgabe von Engeln möglicherweise darin
besteht, Aufmerksamkeit für die Einmaligkeit, die
Kostbarkeit, die Zerbrechlichkeit und Endlichkeit
des Geschenks zu wecken, das wir Leben nennen?
Ob die Tatenlosigkeit der beiden im Himmel über
Berlin uns am Ende lehren will: Ihr selbst steht in
der Verantwortung, Euer und anderer Leben zu
schützen, die Liebe zu verteidigen, den Schmerz
auszuhalten, einander beizustehen, Trost zu spen-
den, Unerträgliches tragen zu helfen.
Sollte es am Ende darauf hinauslaufen, dass die
Verwandlung vom Engel zum Menschen eine Lie-
beserklärung ans Leben ist, ein Lobpreis aufs
Menschsein trotz aller Wunden, die geschlagen
werden, trotz Schatten tiefer Täler, trotz des un-
vermeidlichen Todes?
Und wenn die Liebe die Kraft besitzt, aus Engeln
Menschen zu machen, sollte sie es dann nicht
auch schaffen, dass Menschen einander zu Engeln
werden?
Wim Wenders „Himmel über Berlin“ verliert nicht
ein einziges Wort über Gott. Die Engel sind keine
Boten, die den Menschen in seinem Auftrag etwas
zu sagen haben. Sie können den Alltag der Welt
nicht steuern, können durch Zauberhand kein Un-
heil verhüten, sind weder Tröster noch Ratgeber
oder Beschützer.
Aber weil einer von ihnen sein ewiges Engelsein
gegen die Menschwerdung eintauscht, weil er das
irdische Leben so sehr liebt, dass er dafür auch
den Tod in Kauf nimmt, lehren diese Engelge-
schichte einen Blick, der oft verloren zu gehen
droht, lehrt tiefe Wertschätzung für das irdische
Dasein. Und setzt so ins Bild, was im Korinther-
brief des Apostel Paulus unter der Überschrift
„Das Hohe Lied der Liebe“ aufgeschrieben ist.
Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen re-
dete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tö-
nendes Erz oder eine klingende Schelle.
Und wenn ich prophetisch reden könnte und
wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und
hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen
könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich
nichts.
Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe
und ließe meinen Leib verbrennen und hätte die
Liebe nicht, so wäre mir's nichts nütze.
Und ein paar Zeilen später:
Die Liebe hört niemals auf, wo doch das propheti-
sche Reden aufhören wird und das Zungenreden
aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird.
Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser pro-
phetisches Reden ist Stückwerk.
Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so
wird das Stückwerk aufhören.
Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind
und dachte wie ein Kind und war klug wie ein
Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was
kindlich war.
Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles
Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt
erkenne ich stückweise; dann aber werde ich er-
kennen, wie ich erkannt bin.
Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese
drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
Amen